Zehn Jahre hat er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, mit einem Knall kehrt er zurück. Auf einer Pressekonferenz stellte Winston Clark, Erbe des Clark-Modeimperiums und Politiker, sein Manifest vor, an dem er in seiner Abwesenheit gearbeitet hatte.
Ein Manifest mit dem Potenzial, unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern. Oder sogar zu zerstören.
Aber bevor wir uns mit dem Werk befassen, müssen wir den Verfasser einordnen. Wer ist Winston Clark?
Clark erbte gemeinsam mit seinem Bruder das Kleidungsimperium der Familie. Ein Geschäftsmodell, das dank der Übernahme von nichtmagischen Produktionsmethoden florierte. Während sein Bruder Frederic die Geschäfte führt, beschäftigte sich Winston seit den sechziger Jahren zunehmend mit Politik. Er gründete die Partei Social-Liberal Progressive Movement, auch als Futurists bekannt. Sie näherte sich als erste Partei überhaupt den Exceptionern an, hatte aber auch einen klar wirtschaftlich-kapitalistischen Schwerpunkt.
Die Clarks waren 1978 Ziel des Merseyside-Anschlags, viele Mitglieder der Familie kamen ums Leben. Darunter Winstons Sohn Hugo. Daraufhin zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Ziemlich schnell machten Gerüchte die Runde, er würde an einem Manifest arbeiten. Mit einem derart explosiven Werk hatte allerdings niemand gerechnet. Auch nicht die Journalisten, die der Einladung zur Pressekonferenz gefolgt waren. Clarks Auftritt war zwar angekündigt. Nicht aber sein 60-seitiges Essay. Er habe sich intensiv mit den dargestellten Themen beschäftigt, verkündete der ehemalige Politiker zum Einstieg. Der Inhalt sei nicht leichtfertig verfasst und sehr bedeutsam. “Es geht nicht darum, unsere Welt zu sprengen. Auch wenn ich weiß, dass sie mir das vorwerfen werden”, so seine Worte.
Es fällt uns als Redaktion nicht leicht, das zu glauben. Gemeinsam haben wir die Nacht in den Redaktionsräumen am Konferenztisch verbracht und uns durch das Essay gearbeitet. Immer wieder von den eng beschriebenen Seiten aufgeschaut und uns in die fassungslosen Gesichter geblickt. Ein Gedanke, der in uns allen schnell Raum einnahm: Wow. Jemand mit Einfluss spricht so etwas aus. Wo wird das hinführen?
Der Versuch einer Einordnung.
Im ersten Teil unternimmt er einen philosophischen Exkurs, der seine Beweggründe in einen größeren Kontext einordnen soll. Es ist ganz nett zu lesen, trotzdem klingt Clark wie ein besorgter alter Mann, der etwas hinterlassen möchte.
“Die Systemischen Magietheoretiker sagen übrigens, Gott sei eigentlich nur die Personifizierung eines kollektiven Willens. Ich würde gerne mal mit einem systemischen Theoretiker einen guten Whisky trinken und dazu fragen: Warum zur Hölle sollte all das Ausdruck unseres kollektiven Willens sein?”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Interessanterweise rekurriert er dabei – und das wiederholt sich im gesamten Manifest – auf Susanne Higgs Text “Magic Awakening” aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ausgerechnet das Werk, das zur Grundlage der Awakening-Bewegung wurde, die mehr als ein Jahrhundert später so großes Leid für Clark verursacht hat.
Im zweiten Teil folgt eine Analyse der magischen Gesellschaft. Clark hält uns allen den Spiegel vor – aus einer ganz klassischen Futurists-Perspektive. Er spricht von einer “Welt im Zerfall”, einem Experiment, “dessen Zeitfenster aufgebraucht ist”.
“Unser System war und ist – zu unserer Schande – immer noch nicht auf das Wachstum der letzten 100 Jahre ausgelegt. Durch den Zustrom von Außen schlägt uns auch immer wieder die gewaltige Kraft und das gewaltige Tempo der 1st entgegen. Natürlich lähmt uns das. Es ist eine Lähmung in panischer Angst.”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Es ist eine Abrechnung mit der gesamten magischen Gesellschaft, die er als abgehängt, arrogant und dabei der First World hoffnungslos unterlegen beschreibt. Dabei seien wir auf sie angewiesen:
“Wir können jetzt schon nicht mehr ohne Weltengänger leben, Gas, Wasser, Müllabfuhr, Grundsteuer – wir sind nicht losgelöst. Wir waren es nie. Wir sind EINE Welt. Vielleicht hilft es uns gegen die Angst, zu begreifen: Dass wir zusammengehören und uns gegenseitig brauchen. Ich beschließe heute keine Angst mehr zu haben. Denn es geht darum, dass wir als Menschheit überdauern, nicht als Magier*innen.
Das muss jetzt unser Hauptaugenmerk werden: Die Frage nach der Zukunft. Nach einem neuen Konsens.”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Diese Vorwürfe und vermeintliche Erkenntnisse sind nicht neu, er drückt sie nur eloquent und radikal aus und verbindet sie mit der zunehmenden Technologisierung der First World, die er als Gefahr für die Weltentrennung skizziert.
Die Schlussfolgerung, die er allerdings daraus zieht, ist an Brisanz kaum zu überbieten.
Der dritte und letzte Teil ist der, der wirklich überrascht. Hier positioniert sich Winston Clark auf eine Art und Weise, die niemand erwartet hätte.
“[…] wenn wir aber ehrlich mit uns selbst sind, als magische Gesellschaft, als sogenannte Wächter der Magie – dann können wir der First Word sehr wohl etwas anbieten. Wir können ihr nämlich die Magie anbieten. Wir können aufhören, sie im Glauben an eine besondere Verantwortung zu verstecken. Wir können Magie für alle möglich machen.”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Magie für alle. Als ob das einfach so möglich wäre. Gerüchte dazu gibt es immer mal wieder. In der Regel stammen sie aus Osteuropa, immer sind sie äußerst brutal. Grenzüberschreitende Erfahrungen, Nahtoderlebnisse werden angeblich benutzt, um die Magie zum Vorschein zu bringen. Eingebuddelt in einen Sarg, mit einem Strohhalm zum atmen. Das sind die Geschichten, die zum Thema “Magie erwecken” kursieren. Clark nimmt sie ohne weiteren Kommentar als gegeben hin. Seine These: Wir täten dies schließlich auch.
“Ich bin fest überzeugt: Magie ist keine Gabe. Magie ist nicht genetisch. Magie ist kein Wunder. Magie hält diese Welt zusammen und Magie ist in allen von uns. Wir holen sie nur nicht aus allen heraus. Fast alle der Gründer- und Konsensfamilien sind erweckte Magier*innen. Erweckt in der Annahme magisch zu sein, weil es Generationen vor ihnen auch waren. Wir erwecken also lieber die, denen wir vertrauen und mit denen wir uns ein Magic Britain vorstellen können. Wir geben den unsrigen die Magie. Und ich frage mich: Warum nicht allen?”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Es ist kaum zu glauben. Zum ersten Mal spricht jemand so etwas laut aus und rüttelt damit an den Grundfesten der magischen Gesellschaft. Wird das einen Paradigmenwechsel zur Folge haben?
Einige Passagen seines Machwerks bewegen sich am Rande des Tatbestands der Volksverhetzung:
“Wie das so ist mit uns Menschen, wenn wir vor etwas großem Angst haben, beschäftigen wir uns nur noch mit der Vermeidung, anstatt einmal durch die Angst hindurch zu schauen. Wir haben keine Pläne. Wenn morgen eine Gruppe Magier*innen beschließt, sich eigenmächtig der Welt zu offenbaren – dann stehen wir da, ohne Plan. Was gibt uns aber die Sicherheit, dass all das hier nicht tatsächlich morgen schon vorbei ist – oder übermorgen? In einem Monat? In 20 Jahren oder 2020?”
Winston Clark, “panta rhei. Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“
Das kann man als Aufruf auffassen, loszugehen und die magische Welt vor vollendete Tatsachen zu stellen. Ein erschreckend realer Gedanke. Clark lässt es so einfach und logisch erscheinen, ein Jahrhunderte geltendes Paradigma wie eine veraltete, starre Idee wirken zu lassen, die jede*r einfach nach Belieben wegwerfen könnte. Was macht es mit Magic Britain, wenn jede*r denkt, er hätte das Recht und vielleicht sogar die Pflicht, selbst zu entscheiden?
Clarks Manifest ist ein erschütterndes Werk. Erschütternd, weil er ohne mit der Wimper zu zucken unser Grundverständnis von Gesellschaft für tot erklärt. Erschütternd aufgrund der düsteren Zukunftsvision in Bezug auf die First World. Und das ist vielleicht das Erschreckendste an seinen Gedanken, weil das tatsächlich real sein könnte. Wenn er damit Recht hat: Wie viel Zeit haben wir? Nehmen wir seine Warnung ernst – und wenn ja, was tun wir? Folgen wir seinen Gedanken und verändern alles, woran wir glauben? Ist das überhaupt möglich?
Antworten liefert Winston Clark mit seinem Manifest auf jeden Fall nicht. Nur Fragen über Fragen.